Durch die Einordnung von Tschechien als Risikogebiet im Kontext der Corona-Pandemie und die Unklarheit darüber, ob ich nach Wien über Prag fahren kann, plane ich die Reise zu einer Tagung nach Wien im September 2020 frühzeitig über Salzburg. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, möglicherweise von Stunden, wann Österreich zum Risikogebiet erklärt wird.
Ich möchte die Zeit in Salzburg zu einem Atelierbesuch bei Jutta Brunsteiner nutzen. Ihre Arbeit verfolge ich seit Jahren. Ich denke an ihre kräftigen, farbigen Malereien, denen auch immer eine starke Geste innewohnt, und bin gespannt auf ihre neuen Arbeiten: Kohlezeichnungen.
Seit gestern ist Österreich als Risikogebiet eingestuft und beim Betreten des Ateliers von Jutta Brunsteiner habe ich das Wort „Maske“ im Kopf. Ich setze mich hin und hole tief Luft. Geplant war, dass wir uns neue Zeichnungen ansehen. Da wir aber zwischen den Arbeiten der letzten Monate sitzen, gehen wir erstmal die „Vorgänger“ durch. Ich bin total dankbar dafür, weil sich die Malereien an die letzten mir bekannten Arbeiten anschließen.
Durch die Fülle an Material und Jutta Brunsteiners Beschreibungen kann ich mich gut auf die Arbeiten einlassen. Im Vergleich zu älteren Arbeiten stelle ich Veränderungen fest. Es sind andere Farbigkeiten in anderen Kombinationen, und ich habe das Gefühl, dass weniger die Geste, der Akt des Malens im Vordergrund steht. Dafür werden die Linien oder Körper im Bild stärker. Es sind weniger Farbexplosionen, eher Komposition von Farben. Wenn ich bei den älteren Arbeiten eher an Gestus der Actionpaintings von Jackson Pollock gedacht habe, dann denke ich jetzt an die Malereien von Lee Krasner, definierter, klarer. Ich habe das Wort „Übergang“ und „Brücke“ im Kopf.
Die neuen Arbeiten sind Kohlezeichnungen, Schwarz auf Weiß. Ich bin zunächst überrascht von der Schlichtheit der Arbeiten. Der Protagonist ist eindeutig die Linie, die Struktur der schwarzen Kohle. Ich sehe darin „Äste“, „Zweige“, „Bäume“ auch „Figuren“. Sie sind stark und minimal gesetzt und agieren im weißen Raum, in der Fläche des weißen Papieres. Spannend ist, dass jede „Figur“ eine andere Zeichnung hat, mal zarter, mal kräftiger, mal diffuser, mal dichter. Die Objekte bzw. Personen haben eigene Charaktere.
Liegen mehrere der Zeichnungen nebeneinander, so scheint es, als wäre jede Zeichnung ein Fenster mit einem Ausschnitt in eine andere Welt oder eine andere Perspektive.
Je länger ich mir die Arbeiten ansehe, umso mehr sehe ich Jutta Brunsteiners Handschrift darin.
Die große graue, grüne oder rote Fläche von Vorgängerarbeiten ist jetzt Weiß, und die schwarzen Linien der Akteur in der Hauptrolle. Ich frage mich nach den Formaten und merke dabei, dass Jutta Brunsteiner am Beginn einer neuen Werkgruppe steht.
Noch Stunden später denke ich über die Vielschichtigkeit der Arbeiten nach. Auf dem Heimweg von Wien nach Dresden, nun doch über Prag, weil es keinen Unterschied mehr macht, von einem Risikogebiet durch ein anderes zu fahren.
Ich warte auf Usti nad Labem und die Burg Schreckenstein, weil ich nach der Stelle von Ludwig Richters Bild „Überfahrt zum Schreckenstein“ sehen will. Was für ein zeitloser Titel, denke ich, er passt jetzt fast auf alles.
Dann denke ich an die Arbeiten von Johan Christian Dahl und Caspar David Friedrich, aber irgendwie nur die Bäume und Zweige, dann bin ich wieder bei den Kohlezeichnungen von Jutta Brunsteiner. Sie gehen mir nicht aus dem Kopf.
Mir wird schmerzlich bewusst, was mir fehlt: die Kraft und Sprache von Kunstwerken.
Was ist drin in den neuen Zeichnungen von Jutta Brunsteiner: die ganze Welt.
Susan Donath, Dresden Jänner 2021